Psychokardiologische Krankheitsbilder
Die Entstehung vieler Herzerkrankungen wird durch psychische und soziale Belastungen sowie durch das Verhalten der Patienten mitbestimmt. Zugleich kann eine Herzkrankheit ihrerseits Ängste, Stress und Depressionen auslösen, die sich wiederum in vermehrten Herzbeschwerden äußern und zu vermehrten Komplikationen führen können. Psychischer Stress kann aber auch Herzbeschwerden auslösen, für die sich keine organische Herzkrankheit nachweisen lässt.
Symptome und Ursachen
Stressbelastungen in Beruf und Familie sowie psychische Erkrankungen wie z. B. eine Depression äußern sich nicht nur in einem gestörten Befinden, sondern haben auch starke negative Effekte auf das menschliche Verhalten und die Körperfunktionen.
So können Stress und Depression zu ungesunder Ernährung („Frustfressen“), Bewegungsmangel, Rauchen (als „Stressbremse“) und anderen gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen führen. Unter Stress oder der Belastung einer Depression vernachlässigen manche Menschen medizinische Vorsorgemaßnahmen und haben Mühe, notwendige Medikamente regelmäßig einzunehmen.
Stress wirkt aber auch direkt auf das vegetative Nervensystem und kann z. B. zu Bluthochdruck oder Schlafstörungen führen. Es kommt zudem zur Freisetzung von Stresshormonen und Entzündungsbotenstoffen, die zur vorzeitigen Alterung des Herz-Kreislauf-Systems führen können.
Ungesundes Verhalten und körperliche Stressreaktionen können so einerseits über viele Jahre zur Entstehung von Verengungen der Herzkranzgefäße und/oder zu Schädigungen des Herzmuskels führen. Sie können aber auch akute Herzbeschwerden bis hin zu Herzinfarkten, Herzrhythmusstörungen oder Herzversagen auslösen. Ein wichtiger ursächlicher Faktor scheint dabei eine erhöhte Stressanfälligkeit zu sein, die ihre Wurzeln neben genetischen Einflüssen vielfach auch in Belastungen aus früheren Lebensphasen hat, die im Körper gewissermaßen „gespeichert“ werden können.
Das Erleben einer schweren Herzkrankheit führt zudem bei Betroffenen fast immer zu Todesängsten, auch wenn diese nicht immer bewusst wahrgenommen werden. In der Folge können sich dann weitere psychische und körperliche Beschwerden entwickeln und in einen Teufelskreis aus Herzkrankheit und psychischen Problemen führen. Auch Angehörige von Herzpatienten sind häufig stark verängstigt.
Da viele verschiedene Herzkrankheiten durch Stress und psychische Erkrankungen mitbedingt sein können, richtet sich die Herzsymptomatik einerseits nach Art und Schwere der Herzkrankheit. Aber auch ohne organische Herzkrankheit können aus psychischen Gründen Schmerzen in der Herzgegend, Herzstolpern oder -rasen, Beklemmungsgefühle und ein Gefühl von Luftnot auftreten. Daneben leiden viele Herzpatienten unter Angstgefühlen, etwa vor einem (erneuten) Herzinfarkt, und neigen zur Vermeidung körperlicher und anderer Freizeitaktivitäten. Bei einer Depression werden ein Nachlassen von Interesse und Antrieb, Freudlosigkeit und gedrückte Stimmung bis hin zu lebensmüden Gedanken beobachtet. Auch Schlafstörungen, Erschöpfungsgefühle und andere Körperbeschwerden treten häufig auf und es ist nicht immer einfach herauszufinden, ob es sich dabei um Symptome der Herzkrankheit oder der seelischen Belastung handelt. Dies führt insgesamt zu einer starken Beeinträchtigung der Lebensqualität und oft auch zu unnötigen und am Ende wenig hilfreichen Untersuchungen.
Formen
Typische psychokardiologische Krankheitsbilder sind z. B.
- wiederholte Blutdruckentgleisungen in Stresssituationen, etwa chronischen beruflichen oder Familienkonflikten.
- Herzbeschwerden, die mit einem erhöhten Leidensdruck einhergehen, die durch körperliche Befunde nicht (ausreichend) erklärt werden können und denen eine (evtl. nicht bewusst erlebte) Stress- oder Konfliktbelastung zugrunde liegt (sogenannte funktionelle Herzbeschwerden bzw. somatoforme Störung).
- stressbedingte Herzinfarkte und Herzrhythmusstörungen. Studien zeigen, dass bei weitem nicht jeder Herzinfarkt auf Stress zurückzuführen ist. Dennoch zählt Stress sowohl mittel- als auch kurzfristig zu den häufigsten nachweisbaren Infarkt-Risikofaktoren.
- Stress-Kardiomyopathie, auch „Takotsubo-Kardiomyopathie“ oder „Broken-Heart-Syndrom“ genannt. Hier kommt es, oft ausgelöst durch psychischen Stress, zu einer bedrohlichen Störung der Pumpfunktion des Herzens, die aber unter Behandlung in der Regel wieder rückläufig ist.
- Angststörungen und Depressionen sowie sogenannte Anpassungsstörungen, die als Folge einer Herzerkrankung auftreten können, wenn diese psychisch nicht angemessen bewältigt werden kann.
- posttraumatische Belastungsstörungen mit massiven psychischen und psychosomatischen Symptomen wie Albträumen, Flash-back-Erlebnissen (also dem Gefühl des Wiedererlebens einer bedrohlichen Situation), Rückzug und emotionaler Abstumpfung sowie ständiger Alarmbereitschaft mit vegetativer Übererregung. Diese Störungen können nicht nur nach Überfällen, Vergewaltigungen etc., sondern auch als Folgen von Herzinfarkten, Wiederbelebungen, gehäuften Elektroschocks durch einen eingesetzten Defibrillator oder Herzoperationen mit kompliziertem Verlauf auftreten.
Diagnostische Angebote
Die Diagnose eines psychokardiologischen Krankheitsbilds ergibt sich aus der Zusammenschau der Beschwerden, der Krankheits- und Lebensgeschichte, die in einem ausführlichen Gespräch erfragt wird und der körperlichen Untersuchungsbefunde. Die Erhebung der körperlichen Befunde und apparativen Untersuchungen erfolgt wie bei jedem Herzpatienten mit den jeweils geeigneten Methoden (neben der körperlichen Untersuchung z. B. EKG, Herzecho, Herzkatheter). Im Gespräch achtet der Arzt besonders auch auf die Art der körperlichen Beschwerden sowie auf Anzeichen einer Angststörung oder Depression, auf belastende Momente in der aktuellen Lebenssituation und evtl. auch in der Vergangenheit. Als Ergänzung des Gesprächs können Fragebögen eingesetzt werden, in denen Patienten die Möglichkeit haben, auf einfache Weise Beschwerden und Belastungen anzugeben. Hilfreich sind in manchen Fällen gezielte Untersuchungen, die dazu dienen, Zusammenhänge zwischen Befinden und körperlichen Funktionen unmittelbar aufzuzeigen, etwa Langzeit-EKG- oder Langzeit-Blutdruckmessungen, während derer der Patient ein genaues Protokoll über sein Verhalten, wichtige Ereignisse und begleitende Gefühle führt. In Einzelfällen können solche Untersuchungen auch mithilfe von Stresstests im Labor durchgeführt werden, während derer dann zahlreiche Herz-Kreislauf-Funktionen gleichzeitig gemessen werden können.
Therapeutische Angebote
Diese richten sich nach Art und Schwere der Erkrankung. Grundlage ist auf der einen Seite bei jedem Patienten mit organischer Herzkrankheit eine gute Behandlung der Herzkrankheit einschließlich evtl. weiterer Maßnahmen wie z. B. körperlichen Trainings, das auch auf das seelische Befinden positive Einflüsse hat. Ein wesentlicher Bestandteil der guten Behandlung sind dabei die Beratung und Unterstützung durch den behandelnden Arzt oder ggfs. eine speziell geschulte Krankenschwester. Neben einigen Kardiologen verfügen auch fast alle Hausärzte über eine Ausbildung in „psychosomatischer Grundversorgung“, mit der sie Hilfestellung bei der Verarbeitung von Stress und/oder einer Herzkrankheit leisten und dem Patienten bei notwendigen Anpassungen des Lebensstils auch über längere Zeit zur Seite stehen können.
Als guter Einstieg eignen sich auch kardiologische Rehabilitationsbehandlungen im Anschluss an einen Herzinfarkt oder eine Herzoperation. Für Patienten mit Herzkrankheit und starker psychischer Belastung existieren in einigen Rehakliniken ausdrückliche psychokardiologische Behandlungsangebote.
Bei trotz wiederholter Untersuchungen anhaltenden, körperlich nicht (bzw. nicht ausreichend) erklärten Herzbeschwerden, wiederholten Notfalleinweisungen ohne schwerwiegenden Organbefund oder starker psychischer Beeinträchtigung durch die Herzerkrankung ist eine Vorstellung in der psychokardiologischen Ambulanz anzuraten. Hier können mit dem Patienten beispielsweise die Teilnahme an einer ambulanten Gesprächsgruppe für Herzpatienten, eine ambulante Psychotherapie bei einem niedergelassenen Therapeuten, eine in einigen Fällen sinnvolle antidepressive Medikation oder im Bedarfsfall auch Möglichkeiten einer tagesklinischen oder stationären psychosomatischen Behandlung besprochen werden.
Als erste Universitätsklinik in Deutschland verfügt das Herzzentrum Göttingen seit 2009 über eine eigene psychokardiologische Station, in der Herzkrankheit und Psyche in einem ganzheitlichen Konzept „für Herz und Seele“ aus einer Hand behandelt werden können.