Herzkind der 60er Jahre: Ein Besuch nach sechs Jahrzehnten
Jedes Jahr kommen in Deutschland 8.700 Kinder mit einem angeborenen Herzfehler zur Welt. Heutzutage erreichen etwa 90 Prozent dieser Kinder das Erwachsenenalter. Noch vor 60 Jahren war die Situation eine andere: Angesichts der wenigen Behandlungsmöglichkeiten hatten die betroffenen Kinder nur geringe Aussichten erwachsen zu werden.
Silvia Schedwig-Wiemers ist erwachsen. Die heute 63-Jährige aus Lünen in Nordrhein-Westfalen wurde vor fast sechs Jahrzehnten in der Pädiatrischen Kardiologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) behandelt – die heutige Kinderherzklinik Göttingen. Im Jahr 1965, als Silvia Schedwig-Wiemers vier Jahre alt war, wurde bei ihr ein Ventrikelseptumdefekt (VSD) diagnostiziert – ein Loch in der Herzscheidewand, das operativ verschlossen werden musste. Der Eingriff, der heute als Routine gilt, war damals medizinische Pionierarbeit.
In diesem Sommer besuchte sie die Göttinger Kinderherzklinik, die heute von Prof. Dr. Thomas Paul geleitet wird. Sie erinnerte sich an die Zeit, die sie als kleines Mädchen auf der Station verbrachte. „Vier Wochen war ich allein in der Klinik, während meine Eltern mir täglich Postkarten schrieben“, erzählt Silvia Schedwig-Wiemers. Auf den zahlreichen bunten Postkarten standen aufmunternde, manchmal aber auch ermahnende Worte. „Früher blieben die Kinder stets allein im Krankenhaus. Damals war die Angst vor Infektionen sehr groß und die Desinfektionsmittel nicht ausreichend“, erklärt Prof. Paul und ergänzt: „Heute bleibt in der Regel ein Elternteil bei unseren kleinen Patientinnen und Patienten, selbst auf der Intensivstation.“
Von der Göttinger Kinderkardiologie erfuhr die Familie Schedwig damals nur zufällig. „Für meine Eltern war vieles ungewiss. Sie überlegten schon, Hab und Gut zu verkaufen, um mit mir nach Amerika zu reisen“, erinnert sich Silvia Schedwig-Wiemers. „Nachdem ich einen Fieberkrampf hatte, gab uns ein Arzt den Tipp, nach Göttingen zu fahren. Er selbst war zuvor in der UMG tätig.“ Die Göttinger Klinik für Kinderkardiologie war drei Jahre zuvor von Prof. Dr. Alois Beuren gegründet worden. Sie war die erste in Deutschland, in der speziell ausgebildete Ärzt*innen Kinder mit angeborenen Herzfehlern behandelten.
Nach dem erfolgreichen Verschluss des Ventrikelseptumdefekts konnte Silvia Schedwig-Wiemers ein normales Leben führen. Sie machte Abitur, studierte evangelische Theologie und Germanistik, und wurde künstlerisch tätig. Heute arbeitet sie als Heilpraktikerin für Psychotherapie in einer eigenen Praxis. „Die Herzoperation hat meine Einstellung zum Leben sehr stark geprägt. Ich habe immer sehr bewusst empfunden, wie wunderbar das Leben ist – wie glücklich ich bin, meinen Mann gefunden zu haben. Wie viel Glück ich hatte, wurde mir ganz besonders bei meiner Schwangerschaft klar. Ich konnte das Leben weitergeben“, sagt sie.
„Es ist immer schön zu sehen, wie sich ehemalige Patientinnen und Patienten entwickeln. In diesem Fall ist Frau Schedwig-Wiemers ein tolles Beispiel für die Pionierarbeit, die meine Vorgänger in Göttingen geleistet haben“, sagt Prof. Paul. „Ich wünsche ihr alles Gute für die Zukunft.“
Kinderherzklinik der UMG
Unter dem Dach der „Kinderherzklinik“ der Universitätsmedizin Göttingen arbeitet ein großes Team von Ärzt*innen, Pflegefachkräften und Therapeut*innen der Klinik für Pädiatrische Kardiologie, Intensivmedizin und Neonatologie mit dem Bereich Kinderherzchirurgie der Klinik für Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie der UMG eng zusammen. Jährlich werden mehr als 5.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einem angeborenen Herzfehler behandelt.
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